Martin Gietz

Zum großformatigen Farbholzschnitt von Martin Gietz "Welt des schönen Scheins" (2005; 125 cm x 200 cm)

Kraftvoll dominieren Rot, Schwarz und Gelb. Etwas Blau mischt sich im Vordergrund ein und schmückt eine naturgewaltige Welle, die stark an Katsushika Hokusais “Die große Welle vor Kanagawa”, einem Farbholzdruck, erinnert. Klein und beinahe eins mit dem blutroten Himmel verbirgt sich der Berg Fuji am Horizont. Das Boot wird nur noch einen Moment verweilen können, ehe die Natur zuschlägt. Eine Meerjungfrau rechterhand führt die nasse Intention von Martin Gietz fort. Sie steht für Transformation, Unabhängigkeit und Stärke sowie für Verbundenheit mit dem Wasser. Die Kraft der Zerstörung durch das Nass auf der einen (linken) Seite beinhaltet auch immer wahre Schönheit auf der anderen (rechten) Seite! Zudem macht uns eine Krabbe auf eine andere Verbindung aufmerksam: die zwischen einem Leben im Wasser und auf dem Land.

Während der Vordergrund von der Natur, der Einfachheit, dem Wasser und lebendigen Frauen geprägt ist, offenbart sich in der oberen Hälfte des Druckes die von Menschenhand geformte und moderne Welt: Türme, Hochhäuser, weite Plätze. Links steigen Flugzeuge in Schwarz aus der rot-schwarzen Umgebung steil in die Luft. Geschwindigkeit und Krieg, luftige Macht und den schnellen Ortswechsel verkörpern sie und überfliegen als menschliche Luftbändiger die ungestüme und unaufhaltsame Meereswelle.

Zentral geprägt wird Gietzens Holzschnitt von perspektivisch verzerrten Hochhäusern und Türmen - davor ein großer leerer Platz. Der Turm zu Babel, weiter rechts gelegen, erinnert einerseits an unseren Gemeinschaftssinn und andererseits an die menschliche globale Zerstreuung. Ist der Turm als ironische Anspielung auf unser ständiges Streben im Außen nach Mehr, ohne je anzukommen, zu deuten? Oder die Mutmaßung, dass wir Menschen nicht gemeinsam bis zum Ende gehen? Oder dass wir uns die falschen Ziele setzen?

Über dem Babylonischen Turm scheint ein Feuerwerk gezündet zu sein, auf dem großen Platz davor befinden sich stark abstrahierte Menschen; wie erstarrt in ungewöhnlichen Bewegungen: ein Tanz oder ein Kampf? Mit dieser ängstlichen Tagesstimmung im Gepäck könnte es sich auch wie ein hektisches Kriegsgeschehen handeln. Die Symbiose aus Rot und Schwarz in Kombination mit den quirligen Bildelementen lässt das Werk stellenweise unruhig und hektisch, ja beinahe gefährlich und kriegerisch erscheinen.

Martin Gietz ist gebürtiger Berliner und leidenschaftlicher Großformatdrucker. In seinem Veltener Atelier hat er ausreichend Platz, um eine Straßenwalze unterzubringen. Denn das ist eines seiner wichtigsten Werkzeuge geworden. Auf riesigen bis zu 2 m langen Holzplatten schnitzt und kratzt er die Motivteile heraus, färbt die Platten ein und presst mit der Walze ein ebenso großes Papier darauf. Farbe verbindet sich mit Zellstoff. In dem sogenannten Verfahren der “Verlorenen Form” (auch: “Reduzierschnitt”) werden weitere Details und Formen der Holzplatte entnommen, erneut eingefärbt und gewalzt. Am Ende enthält die Holzplatte durch das kontinuierliche Wegnehmen von zu druckenden Partien nicht mehr die bereits zuvor bedruckten Flächen, die auf dem Papier zu finden sind, zum Beispiel die helleren Farben.

Die frei gewählte Farb- und Formgebung, das Herausarbeiten wesentlicher Objekte bei zeitgleicher Motivreduzierung, der Einsatz leuchtender Farben und die Verschiebung der Perspektiven lassen seine Holzschnitte stilistisch in einen Bereich zwischen Expressionismus und Fauvismus einordnen.

Martin Gietz ist jedoch gleichzeitig passionierter Maler und Zeichner. Vor allem seine intensive Reiselust prägt seinen Stil. Frankreich und Italien sind wahrscheinlich schon gelebte Bestandteile seiner "Westentasche" geworden.

Doch das, was er aktuell tut, fasziniert wohl am meisten: Mit seinen 73 Jahren steigt er frisch in die NFT-Welt ein und nimmt uns mit in (s)ein neues Zeitalter!

https://martingietz.de/

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André Wagner