Tobias Ahlbrecht
Der Fotograf Tobias Ahlbrecht mit einer Fotografie aus seiner Reihe "Nomansland" (2022)!
Das ist eine große Sau!
Ich sehe sofort, dass es kein echtes Schwein ist. Über ein Gestell, wahrscheinlich aus Holz, spannt sich aus groben Stücken zusammengenäht seine Haut. Es könnten Lederhäute sein - Leder von Schweinen? Zum Teil hängt sie in Fetzen herab. Ekel entsteht in mir. Ich spüre deutlich meine Abneigung gegenüber diesem künstlichen Gebilde. Das Schwein sieht aus wie ein abnormal großer verwesender (halb)toter Schweinekörper, ein domestizierter Schweinekörper. Symbolisch verkörpert es die Attribute Maßlosigkeit, Gefräßigkeit, Schmutz und Selbstsucht perfekt.
Sie ist stark!
Auf der anderen Seite steht sie. Stark und schön, jung, nackt und natürlich. Mit aufrichtiger und stolzer Körperspannung steht sie vor dem Schwein - und trägt es in beiden Händen. Trotz ihrer präsenten Ausstrahlung sind ihre Augen verschlossen. Blickt sie ihrem unangenehmen Gegenüber bewusst nicht in die Augen? Oder ist es als Teil ihrer Stärke und als bewusste Abgrenzung von der widerlichen Figur zu verstehen?
Sie trägt das Schwein selbst. Muss sie an ihrem Gegensatz festhalten? Was passiert, wenn sie einfach loslässt? Wäre sie von ihrer Last befreit? Möchte sie das denn überhaupt?
Melancholisch, schwarz und weiß, Leben und Tod, Klarheit und Übermaß - doch ein Wort zu diesem Foto genügt: es ist saustark!
Tobias Albrecht ist in der Architektur-, Landschafts-, Straßen- und Aktfotografie zu Hause. Schon immer haben ihn soziologische und kulturkritische Themen in seinem Kopf und Handeln begleitet. Praktisch wird dies an seiner Teilnahme 2011 beim Foto- und Videowettbewerb „Was heißt schon alt?“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in seiner Jugendzeit sichtbar. Ahlbrecht ist dort mit gleichem Gesichtsausdruck neben seinem Vater und seinem Opa zu sehen. Die Ähnlichkeiten im Aussehen kommen auf dem schwarz-weiß Foto gut zur Geltung. Ahlbrechts Intention der Gleichnis geht jedoch über das Optische hinaus. Wir alle sind uns ähnlicher, als wir meinen.
Bezeichnend für Tobias Ahlbrecht sind seine ständigen Auseinandersetzungen mit sich, seiner Innenwelt und dem Außen. Seit frühester Kindheit leidet er an Depressionen. Doch gerade seine dadurch erreichte Sensibilität fordert ihn immer und immer wieder auf, sich selbst emotional zu reflektieren. Und das gelingt ihm bisher am besten mit seiner Kamera.
2015 schloss er mit seinem Projekt DECAY eine fünfjährige Kunstdokumentation ab, für welche er durch einige verlassene Orte und Gebäude der ehemaligen DDR ging. Das Vergangene, an Bedeutung Verlorene, vermischt sich mit seiner Präsenz und der Gegenwart und hilft ihm bei seiner Suche nach sich selbst.
Die darauffolgenden Jahre (2016 - 2022) widmete er seinem Nomansland-Projekt. Auffällig ist die fotografische Ablichtung nackter Frauen in unterschiedlichsten Situationen. Keine Aktfotografie in Richtung Pornografie, sondern eher in Verbundenheit mit der Natur, der Umgebung und vor allem mit sich selbst. Oftmals in schwarz und weiß wiedergegeben macht Tobias Ahlbrecht darauf aufmerksam, dass der eigene Körper ohne komplizierte Verschönerungen und ohne Ängste sich so zeigen und so sein darf, wie er ist. Angst vor Zurückweisung, Be- oder Abwertung, sexuellen Übergriffen oder einfaches Schubladendenken möchte er entgegenwirken und verdeutlichen, das jeder sich wieder seinen naturgegebenen Qualitäten anvertrauen kann.
In der Ausstellung im hedonistischen Club Insomnia ist eine Auswahl von 19 gedruckten Bildern aus Ahlbrechts Nomansland-Projekt zu sehen. Die seit Mai dieses Jahres durch ihn dort festgehaltenen bizarren Partybilder sind auf der Website selbst zu finden.
Menschen und Orte genau so zu porträtieren, wie sie sind und nicht, wie sie verkleidet wurden, ist die Vision Tobias Ahlbrechts. Und mit ihr werden sicherlich weitere spannende Projekte folgen.
https://tobiasahlbrecht.com